Alles wird gut ...

Journalistisch ist der Höhepunkt der Krisenberichterstattung bereits überschritten. Nachdem ich in meiner zweiten Presseschau den Eindruck geäußert hatte, dass die Qualität der Berichterstattung zunimmt, stelle ich nun fest, dass nicht mehr viel Neues kommt. Ist schon alles gesagt?

Der Hammer und der Tanz

Die Frage des Ausstiegs aus den Kontaktbeschränkungen beschäftigt derzeit jeden intensiv. Allerdings habe ich den Eindruck, dass zu dem, was Tomás Pueyo schon vor Wochen in seinem Aufsatz „The Hammer And The Dance“ [Medium 19.03.] geschrieben hat, keine wirklich neuen Erkenntnisse dazugekommen sind.

Kurz zusammengefasst: Wir müssen durch drastische Maßnahmen auf eine sehr kleine Reproduktionszahl (näher bei 0 als bei 1) kommen, um den Virus zurückzudrängen – der Hammer. Danach müssen wir die Reproduktionszahl (u. a. durch konsequentes Testen und Kontaktenachverfolgung) bei etwa 1 halten – das ist der Tanz.

Die anderen denkbaren Szenarien – nichts zu tun oder die Infektionswelle lediglich abzuschwächen – werden abgelehnt. Die drei beschriebenen Szenarien und ihre Wertung finden sich vier Wochen später sehr ähnlich im Positionspapier der Helmholtz-Gemeinschaft wieder. [Helmholtz 13.04.]

Überhaupt scheint mir Tomás Pueyo in vielen Punkten ein gutes Gespür gehabt zu haben, auch wenn er nicht vom Fach ist. Alle Artikel sind gut recherchiert und grafisch hervorragend aufbereitet. Sein Artikel „Coronavirus: Why You Must Act Now“ [Medium 10.03.] ist auch heute noch lesenswert. Er sagte am 10.03.2020 voraus, dass die ganze Welt zwei bis vier Wochen später im Lockdown sei – zu einem Zeitpunkt, als sich in Deutschland vermutlich noch niemand vorstellen konnte, in einer Landesverfügung jemals einen Satz wie „Das Verlassen der eigenen Wohnung ist nur bei Vorliegen triftiger Gründe erlaubt“ lesen zu können. Und tatsächlich erschien die Allgemeinverfügung des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege, in der dieser Satz steht, nur zehn Tage später. [Alle Verordnungen auf KriPoZ] Knapp drei Wochen später hat das Bundesverfassungsgericht einen Antrag auf vorläufige Außerkraftsetzung dieser Ausgangsbeschränkung abgelehnt. [BVerfG 08.04.]

Der Ausstieg kommt zu früh

Der Hammer war also zumindest für diese Befristung rechtmäßig. Leider beginnen wir aber mit dem Tanz zu einem Zeitpunkt, zu dem wir gerade bei einer Reproduktionszahl von knapp unter 1 angekommen sind. Gut, wenn es uns gelingt, die Reproduktionszahl trotz der Lockerungen zu halten, wird unser Gesundheitssystem nicht kollabieren. Man sollte sich aber auch vor Augen halten, was es bedeutet, jetzt schon zu starke Lockerungen zu beschließen.

Mittlerweile gibt es mehrere sehr gute Dashboards, in denen die Entwicklung der wichtigsten Zahlen der Pandemie weltweit und nach Ländern grafisch aufbereitet ist. Das im Moment beste, das ich kenne, ist das der Versicherungsgruppe Scor. [CovidTrends.scor.com]

Aktuell liegen wir im Durchschnitt über sieben Tage bei etwa 1.800 täglichen neuen Infektionen und etwa 200 täglichen Todesfällen, wobei die Zahlen bedingt durch die Meldepraxis täglich stark schwanken, aber keinen deutlichen Trend aufweisen. Die Zahl der Todesfälle wird durch den Rückgang der Infektionen während des Lockdown vermutlich noch eine gewisse Zeit weiter sinken. Vielleicht auf 100 Todesfälle am Tag? Wenn wir uns nun damit zufrieden geben, diese Zahlen zu halten und nicht weiter zurückzudrängen, dann haben wir bis zum Jahresende insgesamt etwa 30.000 Todesfälle. Und wenn es uns nicht gelingt, die Zahlen zu halten, sogar noch mehr. So wird aus dem Tanz, den Tomás Pueyo beschreibt, ein Tanz auf dem Vulkan. [Zeit 16.04.]

Hinzu kommt: Es scheint nicht nur eine Dunkelziffer bei den Infektionen, sondern auch bei den Todesfällen zu geben. Jedenfalls beobachtet man in manchen Ländern eine deutliche Zunahme von Todesfällen gegenüber den Vorjahren, die bisher nicht in Verbindung mit der Pandemie gebracht wurden. [New York Times 25.04.]

Diese Todesfälle muss man vielleicht in Relation zu Todesursachen jenseits der Atemwege setzen, die ebenfalls durch den Virus verursacht werden. So zeigte ein Team des Universitätsspitals Zürich, dass der Virus Entzündungen in den Gefäßen auslöst und so zu Organversagen bis zum Tod führen kann. [USZ 20.04.]

Angesichts dieser Zahlen wäre es besser gewesen, die Zahl der Neuinfektionen weiter zurückzutreiben, um auch die Zahl der Todesfälle auf niedrigerem Niveau halten zu können. Möglicherweise ist diese Chance mit den beginnenden Lockerungen schon vertan. Vielleicht kommt sogar eine zweite Welle. [Zeit 22.04.]

Und es soll sich auch niemand darauf verlassen, wir hätten in Kürze einen Impfstoff. Vermutlich ist es aus medizinischer Sicht nicht vergleichbar, aber gegen HIV gibt es nach fast vierzig Jahren noch keinen Impfstoff. Und selbst wenn der Durchbruch beim Coronavirus in Kürze gelänge, wie lange dauert es, bis genügend davon produziert und ein ausreichend großer Teil der Bevölkerung geimpft ist?

Der Virus und der Stress

Auch wenn die Politiker betonen, dass die Mehrheit der Bevölkerung vernünftig ist: Es gibt eben auch eine große Zahl an Mitmenschen, die sich egoistisch und ignorant verhält. Was man so im Familien- und Bekanntenkreis mitbekommt: Da werden Nachrichten verteilt, dass der Virus harmlos sei und man von der Regierung eingesperrt werde. Da trifft man sich an jedem der vier Tage des langen Osterwochenendes mit unterschiedlichen Personen. Da feiert man in kleinem Kreis, aber eben mit Personen aus mehreren Haushalten, einen Geburtstag. Gelingt es uns so, den nächsten Lockdown zu vermeiden? Ich befürchte nein. Nur einen Freund besuchen – wenn es jeder macht, kann es dramatische Auswirkungen haben. [Statnet 03.04.]

Andererseits: Wir stehen alle im Moment unter Stress. Auch die meisten derjenigen, die Gelassenheit demonstrieren. Der Stress kann verschiedene Ursachen haben. Wut über das Verhalten der anderen. Angst um den Arbeitsplatz. Das Gefühl, eingesperrt zu sein. Einsamkeit. Die plötzliche Vielfachbelastung durch Homeoffice, Homeschooling und Homekeeping. Die Angst, sich zu infizieren oder einen geliebten Menschen zu verlieren. Sorge um unseren Rechtsstaat. Der Verzicht auf den lange herbeigesehnten Urlaub. Angst vor dem finanziellen Ruin.

Einen kurzen persönlichen Text zum Stress hat Johanna Adorján auf Instagram geschrieben. Sie berichtet u. a. aus einem Artikel der New York Times: „Es ist offenbar vollkommen normal, in so einer Situation wie wir sie gerade erleben (sie nennen es ein kollektives Trauma) mit Erinnerungs-Aussetzern zu reagieren. Viele würden gerade mit Brille duschen und ähnliches. Leichte Gehirn-Fehler seien sogar ein Zeichen dafür, dass das Gehirn korrekt arbeite. Es sei völlig angemessen, gerade Stress zu empfinden – wer dagegen ganz entspannt sei, um den müsse man sich eher sorgen.“ [Johanna Adorján 10.04.]

Der Virus und die Politik

Bleiben wir bei den sozialen Medien, blicken aber auf die Politiker. Bemerkenswert die Tweets von Hatice Akyün, die sich bei den Politikern „für ihre rotzige Art“ entschuldigt und schreibt: „Ich könnte nicht jeden Tag unermüdlich bis zur Erschöpfung PolitikerIn sein und am Ende des Tages Hohn, Spott und Undankbarkeit ernten. Und ich wage mal zu behaupten, dass niemand von uns die Eier dafür hätte in dieser Krise.“ [Hatice Akyün 02.04.]

Ja, so ist es!

Und Benjamin Alvarez zeigt auf Twitter ein Video, in dem Angela Merkel die Auswirkungen der Reproduktionszahl erläutert. [Benjamin Alvarez 16.04.] Die Kommentare darunter sind mit überwältigender Mehrheit positiv, z. B. „She actually cares for her people/Country unlike what we're stuck with here in USA. A true leader.“ oder „One of the advantages (I can think of others) of having a scientist in charge rather than, say, a reality TV star or a failed journalist.“ oder „This is a leader who has insight, intellect, reason and calm. Germany is not perfect but so much more prepared & successful at keeping one step ahead. @realDonaldTrump and @BorisJohnson as amateurs, watch and learn as you two have so much to learn from a professional like Merkel.

Ich schließe mich diesen Auffassungen an. Ich bin derzeit sehr froh, in Deutschland zu leben. Vor zwei Monaten hätte ich nicht gedacht, dass es in unserer Demokratie möglich ist, zur Bekämpfung einer Pandemie die notwendigen drastischen Maßnahmen durchzuführen. Zum Glück ist es möglich, und wir haben im Verlauf der Krise vermutlich viel der Verhandlungsführung von Angela Merkel zu verdanken. Und auch wenn ich ihre Partei nie gewählt habe, bin ich froh, dass sie derzeit Kanzlerin ist.

Sehr positiv habe ich erlebt, wie zu Beginn der Krise alle an einem Strang gezogen haben. Doch langsam geht das Gemecker wieder los. Jetzt kommen sie wieder, die Kritiker, die hinterher alles besser wissen, von denen man aber vorher nichts gehört hat. Ein Beispiel: Wolfgang Michal zieht das gemeinsame Handeln als Volksgemeinschaftsmoral ins Lächerliche. [Der Freitag 17.04.] Da hilft es mir nur wenig, zu lesen, der Mensch sei im Grunde gut [Republik, 19.03.] oder die Krise mache uns zu besseren Menschen [Perspective Daily 20.04]. Ich bin mir da nicht so sicher, habe aber die Hoffnung noch nicht aufgegeben.

Um bei all dem Covid-19-Stress auch in der Krise gut schlafen zu können, hilft nur eins, ein Nachrichten-Lockdown: Reduzierung des Konsums der Corona-Berichterstattung auf das Notwendige. Konzentration auf andere Themen, die gerade zu wenig Aufmerksamkeit bekommen. [Krautreporter 23.04.] Und, weil die anderen Themen auch nicht nur erfreulich sind: Keine Nachrichten mehr nach 17 Uhr. Ich lese jetzt abends wieder ein Buch. Alles wird gut.